Max-Planck-Gymnasium

Zeitzeugen 2015 - Kurt Schrimm: Gefühle darf man sich nicht erlauben

15 Jahre lang war die Suche nach nationalsozialistischen Verbrechern sein täglich Brot. Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm leitete in Ludwigsburg die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen, die sich um die Aufklärung von NS-Verbrechen kümmert. In der Reihe „Zeitzeugen" am Max-Planck-Gymnasium erzählte er von seiner Arbeit.

Als die Zentrale Stelle 1958 gegründet wurde, ging man eigentlich davon aus, dass die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen nach ein paar Jahren wieder beendet sein würde. Spätestens 1965, schließlich verjährte Mord in der Nachkriegszeit nach 20 Jahren. Doch es kam anders. Mord verjährt schon lange nicht mehr und durch den ersten Auschwitz-Prozess 1964 in Frankfurt erkannte man erst das ungeheure Ausmaß der Kriegsverbrechen in Deutschland.

Es war ein Schneeballsystem: Ein Prozess gegen einen NS-Verbrecher wird eingeleitet, Zeugen werden vernommen. Zeugen, die viel wissen, nicht nur zum gefragten Fall. So ergab sich aus einem Prozess der nächste. Bis heute. Erst vor ein paar Monaten wurde der 94-jährige Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord zu vier Jahren Haft verurteilt.

Viele Menschen können einen solchen Prozess nicht nachvollziehen - warum muss man sich im hohen Alter für längst vergangene Taten bestrafen lassen? Schrimm hört diese Frage oft und hat versucht, sie zu beantworten. Rein juristisch muss es ein Ermittlungsverfahren geben, wenn Verdacht auf eine Straftat besteht. Legalitätsprinzip nennt sich das. Aus moralischer Sicht ist aber noch ein anderer Faktor entscheidend. Man zeigt dem Opfer: Du bist nicht allein.

Schrimm erinnert sich an eine jüdische Zeugin, die an einem Tag ihre gesamte Familie verloren hat. Als er vierzig Jahre nach dem Vorfall zu ihr kam, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Jetzt könne sie mit dem Kapitel abschließen, egal ob der Täter verurteilt wird oder nicht. Hauptsache, man nehme sich des Falls an. Zukünftig wird es kaum noch Verurteilungen wie im Fall Gröning geben. Oft fehlen die Beweise oder die Angeklagten sind aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr haftfähig. An der Aufklärung von Verbrechen wird aber weitergearbeitet. Das ist mühsam, früher wie heute. Zu Gründungszeiten der Zentralen Stelle waren wichtige Akten vernichtet, Zeugen waren längst nicht mehr in Deutschland. Aber es gab immer wieder Hinweise von außen, denen man nachgehen musste. Als Schrimm in die Zentrale Stelle kam, gab es solche Hinweise nicht mehr. Er suchte nach Archiven, die vorher nicht zugänglich waren. Zum Beispiel in Südamerika, wohin viele NS-Verbrecher geflüchtet waren. Als er das Archiv in Buenos Aires besuchte, wurden ihm 800 000 Akten zur Verfügung gestellt. Zu viele, um sie alle einzusehen. Und wenn er in Akten doch wichtige Namen herausfand, etwa in Chile, stellte er in Deutschland fest, dass die gesuchten Personen schon verstorben waren. Wen er aber hinter Gitter brachte, war Josef Schwammberger. Ein Hitler-Fanatiker, ein Sadist. Als Kommandant des Gettos Przemysl, Polen, mordete er nicht nur auf Befehl, sondern auch freiwillig. Jahrelang war er nicht zu fassen, bis ein anonymer Hinweisgeber seinen Aufenthaltsort Argentinien verraten hat. Schrimm vernahm ihn nach seiner Auslieferung an Deutschland. Das Urteil lautete lebenslänglich. Wie es sich anfühle, einem Massenmörder gegenüberzusitzen, wollte ein Schüler von Schrimm wissen. Gefühle, antwortete der, dürfe man sich in seinem Job nicht erlauben.


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